Selbständigkeit und Gemeinschaft

Merkmale einer presbyterial-synodalen Ordnung am Beispiel der Ev.-reformierten Kirche


Digital durchgeführte Synode der Evangelisch-reformierten Kirche im März 2021; Foto: Ulf Preuß

Von Helge Johr

Die Reformierten in Nordwestdeutschland und in Bayern haben sich im Zuge ihres Zusammenschlusses zur Evangelisch-reformierten Kirche ganz bewusst auf die Anfänge der presbyterial-synodalen Ordnung von Gemeinden und Kirchen besonnen und dies in ihrer Verfassung von 1989 verankert.

Auch wenn sich der Begriff der presbyterial-synodalen Ordnung erst im 19. Jahrhundert in Literatur und Kirchenverfassungen etabliert hat, wird er vielfach auf die Beschlüsse der Synode von Emden und ihrer Vorgänger zurückgeführt. So bezieht sich beispielsweise die Evangelisch-reformierte Kirche in ihrer Kirchenverfassung unmittelbar auf Artikel 1 der Emder Synode:

§ 4 Abs. 1    „Keine Gemeinde darf über einer andere, kein Gemeindeglied über ein anderes Vorrang oder Herrschaft beanspruchen. Alle Kirchenleitung erfolgt durch Presbyterien (Kirchenräte) und Synoden.“ 

Gemeinschaft statt Obrigkeit
Theologisch wird die Idee einer kollegialen und geschwisterlichen Kirchenleitung häufig aus Matthäus 18,15-20 hergeleitet. Hier werde eine Form der Leitung von Gemeinde beschrieben, die ohne Bischöfe und staatliche Obrigkeit auskommt, sondern in und durch Gemeinschaft erfolgt. Verbunden wird dies mit den reformatorischen Überlegungen zum „Priestertums aller Gläubigen“. Während der Reformation hatte sich immer mehr die Überzeugung verbreitet, dass allein Jesus die Kirche führt und daher niemand unter Christinnen und Christen besser, schlechter oder heiliger ist, als der andere. So wurde auch die Lehre abgelehnt, nach der die Priester durch die Weihe eine besondere Würde verliehen bekommen. 

Klar definierte Aufgabenteilung
Bereits 1523 stellte Martin Luther fest „daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, die Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, […]“. So entwickelte sich in reformatorischer Zeit immer mehr die Überzeugung, unterschiedliche Ämter in der Kirche klar zu definieren und entsprechend der Kompetenzen auf unterschiedliche Personen aufzuteilen. Dieser Ansatz wurde dann erstmalig in Calvins Vierämterlehre als Kirchenordnung für die Stadt Genf 1541 umgesetzt. Es folgten die Kirchenordnungen der Hugenotten (1559), das First Book of Discipline der Kirche von Schottland (1560) und schließlich die Beschlüsse der Synode von Emden im Jahr 1571.

Allerdings haben sich diese Kirchenordnungen zumindest in den deutschen Staaten nicht in Reinform durchsetzen können. In der Rückschau ist festzustellen, dass die über die folgenden Jahrhunderte vorherrschenden staatskirchlichen Strukturen, die in der Regel mit einer landesherrlichen Kirchenleitung bzw. mit katholischen Bischofsstrukturen verbunden waren, konsequent presbyterial-synodale Ordnungen nicht zuließen. Daher waren solche Strukturen in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein meist nur dort zu finden, wo in einer vorherrschenden anderskonfessionellen Staatsführung eine kleine reformierte Minderheit geduldet wurde, wie etwa im Rheinland und in Westfalen. 

Mit der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung wurden 1835 presbyterial-synodale Grundideen erstmals in eine landeskirchliche Verfassung aufgenommen und entwickelten sich in der Folge auch in weiteren evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Da aufgrund des Staatskirchenrechts der Landesherr aber meist weiterhin das Oberhaupt der Kirche blieb, hatten diese presbyterial-synodalen Strukturen oftmals eben doch einen konsistorialen Überbau. 

Erst mit der Gründung der Weimarer Republik und der Ablösung des jeweiligen Landesherrn als Kirchenoberhaupt war es möglich, konsequent presbyterial-synodale Kirchenordnungen zu gestalten. Die jeweiligen Kirchenverfassungen und Kirchenordnungen, die ab 1918 nach und nach entstanden sind, enthalten unterschiedliche Regelungen dazu, in welchem Umfang die gesamtkirchliche Verwaltung die Aufsicht über Kirchengemeinden ausüben kann. Grundsätzlich zeichnen sich presbyterial-synodale Kirchenordnungen durch eine hohe Eigenverantwortung der Kirchengemeinden aus (Presbyterialprinzip). Diese Selbständigkeit der Kirchengemeinden lässt sich in der Regel im Recht zur Wahl von Pfarrerinnen und Pfarrern und in der Selbstverantwortung für Finanzen und Verwaltung erkennen. 

Das synodale Prinzip greift da, wo Entscheidungen getroffen werden müssen, die alle Gemeinden direkt oder indirekt betreffen. Dies geschieht auf bezirks- wie auf gesamtkirchlicher Ebene durch Vertreterinnen und Vertreter der Kirchengemeinden. Zu diesen gehören zwar auch Pfarrstelleninhaber*innen. Es ist aber stets sichergestellt, dass sie in den Synoden nicht die Mehrheit haben, sondern Älteste bzw. Presbyter*innen. 

Als ein Beispiel für eine konsequente presbyterial-synodale Kirchenordnung kann die Kirchenverfassung der Evangelisch-reformierten Kirche von 1988 gelten. Als maßgeblich für die Ordnung der Kirche legt die Kirchenverfassung sechs Grundsätze fest:

„(1) Keine Gemeinde darf über eine andere, kein Gemeindeglied über ein anderes Vorrang oder Herrschaft beanspruchen.
(2) Alle Kirchenleitung erfolgt durch Kirchenräte/Presbyterien und Synoden; Synodale dürfen nur durch Gemeindeorgane oder Synoden berufen werden.
(3) Die Gemeinden wählen ihre Pfarrer oder Pfarrerinnen auf Vorschlag des Kirchenrates/Presbyteriums frei aus allen wählbaren Predigern und Predigerinnen.
(4) Die Gemeinden ordnen ihre Angelegenheiten selbstständig. Den Synoden wird vorgelegt, was in der Gemeinde nicht hat entschieden werden können.
(5) Die Synoden entscheiden über die Angelegenheiten, die ihnen die Kirchenverfassung zuweist oder die eine Mehrzahl von Gemeinden angehen. Ihre Aufsichtsbefugnisse beschränken sich auf Maßnahmen, die unerlässlich sind, um die rechte Verkündigung des Evangeliums sowie die bekenntnisbedingte Ordnung und die Selbstbestimmung der Kirche zu gewährleisten.
(6) Die Kirchengemeinden wirken an der Vorbereitung der synodalen Verhandlungen mit. Um der synodalen Gemeinschaft willen wissen sie sich an die synodalen Entscheidungen gebunden.“

Die starke Betonung der Selbständigkeit der Kirchengemeinden rührt daher, dass sich in der Verfassungsdiskussion nach der Auflösung des preußischen Kirchenregiments (1919–1922) die Befürworter einer konsequenten presbyterial-synodalen Ordnung durchgesetzt hatten. In späteren Anpassungen der Verfassung wurde diese Grundsatzentscheidung beibehalten. Praktisch wird dies wie folgt umgesetzt:

Weitreichende Verantwortung der Presbyterien
Die Kirchenräte bzw. Presbyterien leiten die Gemeinden. Hierzu gehört auch (gemeinsam mit dem Pfarrer bzw. der Pfarrerin) die geistliche Leitung und das Recht zu bestimmen, wer in der Gemeinde predigt (Kanzelrecht). Die Finanz- und Vermögensverwaltung kann zwar an eine kirchliche Verwaltungsstelle abgegeben werden, wird aber in der Regel durch ehrenamtliche Mitarbeitende in der Gemeinde vor Ort erledigt. 

Starke Verankerung der Synoden
Die Presbyterien wählen Delegierte in die Bezirkssynoden und diese wiederum in die Gesamtsynode. Zusätzlich dürfen nur höchstens drei Personen in die Gesamtsynode berufen werden. So bleibt die unmittelbare Anbindung von Kirchengemeinden an die Gesamtsynode erhalten.

Einbindung statt Gewaltenteilung
Die Gesamtsynode leitet und verwaltet die Kirche. Deren „Vorstand“, Moderamen genannt, besteht mehrheitlich aus Ältesten bzw. Presbytern und nicht aus Pfarrstelleninhaber*innen. Das Moderamen vertritt die Synode außerhalb ihrer Sitzungen. Der ebenfalls von der Synode gewählte Kirchenpräsident ist Vorsitzender des Moderamens und leitet die kirchliche Verwaltung. Durch diesen Aufbau findet keine klassische Gewaltenteilung statt, wie sie in einem demokratisch verfassten Staat üblich ist. Die Kirchenordnung ist vielmehr eine konsequente Umsetzung der gemeindlichen und synodalen Interessenvertretung. Der Kirchenpräsident bzw. die Kirchenpräsidentin vertritt und handelt im Auftrag der Gesamtsynode, die wiederum aus den Kirchengemeinden besetzt ist.

Letztendlich ist dieser Aufbau nur eine der möglichen Umsetzungen presbyterial-synodaler Strukturen. Als einzige rein reformierte Kirche innerhalb der EKD hat sich die Evangelisch-reformierte Kirche dabei in ihrer Verfassung eng an den Beschlüssen der Synode von Emden orientiert.