Gemeinsam auf dem Weg – Das synodale Verständnis von Emden hat eine Vorgeschichte


4. Konzil von Konstantinopel (869-870); Cesare Nebbia (1536-1614), gemeinfrei

Von Georg Plasger

Die Emder Synode 1571 ist ein Meilenstein im Verständnis von Synoden. Aber wie so oft in der Geschichte ist in Emden nicht alles neu erfunden worden. Kirche, so kann man es von Anfang an sehen, hat mindestens zwei Bezugsgrößen: zum einen die Ortsgemeinde – und zum anderen die gesamte Kirche Jesu Christi.

Das Synoden- und Konzilsverständnis vor der Reformation
Bis ins zweite Jahrhundert hinein wurden strittige Fragen immer nur in der Ortsgemeinde verhandelt. Dort wurden auch die Entscheidungen getroffen. Beispielsweise wurde Marcion um 140 n. Chr.  noch von der einzelnen Kirchengemeinde in Rom als Irrlehrer ausgeschlossen. Aber zunehmend setzte sich der Gedanke durch, dass es wichtige Themen gibt, die einzelne Gemeinden überfordern. Deshalb entstanden ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts Synoden, in denen deren Vertreter zusammenkamen. Diese Vertreter waren die Bischöfe der Gemeinden. Es gab Synoden, die sich nur auf Teile des römischen Reiches bezogen. Nach der konstantinischen Wende wurden vom römischen Kaiser auch überregionale, sogenannte ökumenische Konzile („Konzil“ und „Synode“ werden etwa wortgleich verwendet) einberufen. Im Mittelalter setzt sich diese Doppelstruktur weiter durch. Neben den Synoden, die in bestimmten Regionen stattfanden, wurden vom Papst Konzilien einberufen, die für die ganze katholische Christenheit Entscheidungen fällten. Dies geschah erstmals 1215. 

Das synodale Verständnis in der Reformation
„Auch Konzilien können irren!“ Mit diesem Satz auf dem Wormser Reichstag 1521 rüttelte Martin Luther in doppelter Hinsicht an der bisherigen Rolle der Konzilien. Einmal war es die Anfrage an das Verständnis des Papstamtes: Kein Mensch ist Stellvertreter Christi auf Erden. Und zum anderen können nach Luther Synoden oder Konzilien immer nur Entscheidungen unter Vorbehalt treffen. Wichtiger als die Beschlüsse von Synoden ist das, was die Heilige Schrift sagt. Mit dem Wegfall der päpstlich-bischöflichen Leitung der Kirche entstanden in den evangelisch gewordenen Gebieten einzelne territoriale Synoden, so 1525 in Preußen oder 1541/42 auch in Pommern. Allerdings waren es immer Synoden, die letztlich dem jeweiligen Landesherren untergeordnet waren. Die Frage, welche Kompetenz den Synoden zukommt, war durchaus umstritten. 

Die Emder Synode 1571 steht in der Tradition von Synoden ohne landesherrliches Kirchenregiment. Das macht sie allein durch ihre Existenz in Deutschland zu einem Sonderfall. Aber es war auch eben keine deutsche Synode, sondern eine niederländische auf deutschem Boden. 

„Emden 1571“ ist eine reformierte Synode – und hier ist es hilfreich, reformierte Akzentsetzungen zu sehen, wie sie vor allem von Johannes Calvin geprägt worden sind. Er hatte sich in Genf schon sehr früh für eine Aufgabenunterscheidung von Kirche und Staat eingesetzt. Sein Ziel war es, dass die Leitung der Kirche nicht durch den Staat geschieht, sondern durch die Kirche selber. Das war ein Novum. Zahlreiche Konflikte in Genf zeigen jedoch, dass es an vielen Stellen zu einer Durchmischung der Aufgaben kam, auch weil die „Obrigkeit“ nicht auf ihren Einfluss verzichten wollte. 

Anders sieht es dann bei den Kirchen aus, die – wie etwa in Frankreich – nicht vom Staat gefördert wurden, sondern oft sogar verfolgt. Natürlich gab es hier kein landesherrliches Kirchenregiment, oft lebte die Kirche im Untergrund. Hier wie auch in Emden hat die Kirche in ihrem eigenen Verständnis von Leitung auf Grundgedanken des kollegialen Leitungsverständnisses bei Calvin zurückgreifen können.

Das Grundverständnis von Kollegialität bei Johannes Calvin
Wozu ist die Kirche da? Das ist eine Frage, die nicht nur Calvin immer wieder beschäftigt hat. Calvins Antwort war: Sie ist nicht für sich selbst da, sondern sie ist von Gott erwählt, um Menschen zur Gemeinschaft mit Christus einzuladen und zu erhalten. Das führt sehr schnell zu der Überlegung, wie die Kirche diesem Auftrag am ehesten entsprechen kann. Natürlich kann das nicht ein für alle Mal und für alle Gemeinden gleich beantwortet werden; es bedarf dazu immer wieder neuer Überlegungen. Calvin sieht dabei vier Aufgaben als wesentlich an: Die Verkündigung des Wortes Gottes und die damit verbundene Feier der Sakramente, die christliche Bildung (Lehre), die Leitung einschließlich der Seelsorge und die Diakonie.

Diese Aufgaben können nach Calvin nicht von einer Person ausgeübt werden, weshalb er seine Lehre vom vierfachen bzw. dreifachen Dienst (der Begriff passt besser als „Amt“) entwickelt und zum wesentlichen Bestandteil seines Verständnisses von der Gestalt der Gemeinde macht: Der für die Verkündigung und die Sakramente zuständige Pastor, der mit der christlichen Bildung beauftragte Lehrer, der Presbyter oder Kirchenälteste, der für die Seelsorge in den Bezirken zuständig ist und zusammen mit den Pastoren und Lehrern die Kirchenleitung bildet, und die Diakone, die in verschiedener Hinsicht im Bereich der Fürsorge tätig sind. Diese Aufteilung der Dienste ist für Calvin wichtig, weil die Gaben unterschiedlich verteilt sind. So formuliert Calvin: „Denn wenn es auch die Sache aller Hirten ist, zu lehren, so gibt es doch, damit die Gesundheit der Lehre aufrechterhalten werde, eine besondere Gabe der Schriftauslegung, und wirklich wird einer ein Lehrer sein können, ohne doch für das Predigen tauglich zu sein.“

Das Vorhandensein dieser sehr unterschiedlichen Gaben liegt begründet im Reichtum des Heiligen Geistes, der die Kirche Jesu Christi beschenkt. So hat „die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die doch mit einer vielfachen Mannigfaltigkeit von Gaben ausgerüstet ist, einen viel reicheren und völligeren Schatz himmlischer Weisheit zum Geschenk erhalten […] als jeder einzelne für sich allein“. Das verlangt nun danach, dass die begabten Christenmenschen „all die Wohltaten, die ihnen Gott gewährt, gegenseitig einander mitteilen“. Darin besteht die Gemeinschaft. Nicht in Uniformität. Nach Calvin kommt „die Einheit in der Kirche zustande, so wie in der Musik mannigfaltige Töne eine süße Melodie zustande bringen.“

Kollegialität der Gemeinden
Nun ist Calvins Auffassung von Kollegialität für die einzelne Gemeinde entwickelt worden. Seine Vorstellung von der Differenzierung der Dienste und vom kollegialen Umgang sind aber auch für das reformierte Synodalverständnis fruchtbar gemacht worden. Was für das Miteinander innerhalb einer Gemeinde gilt, gilt im Grundsatz auch für das Miteinander von mehreren Gemeinden! Das bedeutet dann: Erstens ist jede Gemeinde anders als die andere, keine Gemeinde ist über- oder untergeordnet. Die Verschiedenheit der Gemeinden führt also nicht zu einem hierarchischen Verhältnis untereinander. Zweitens ist wichtig, dass eine einzelne Ortsgemeinde sich nicht selbst genug ist. Sie soll nicht den Eindruck erwecken, die anderen Gemeinden, die ganze Kirche Jesu Christi, nicht zu brauchen. 

Diese grundlegende ökumenische und anti-hierarchische Sicht der Kirche ist eine Grunderkenntnis der Emder Synode von 1571 geworden. Sie hat damit weit über Emden und die Niederlande hinaus gestrahlt. Sie konnte das deshalb, weil hier Gemeinden zusammenkamen, die – anders als im Mittelalter und auch anders als weitgehend in der deutschen Reformation – selbstständig handeln mussten. Vermutlich sind die Erkenntnisse der Emder Synode auch deshalb in die Barmer Theologische Erklärung von 1934 eingeflossen. Dort heißt es in These IV: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“